5. Januar 2002,  02:05

Botulinum-Toxin - eine mögliche B-Waffe

Militärisches und terroristisches Interesse an altem Gift

Das Botulinum-Toxin ist die giftigste Substanz, die man überhaupt kennt. Bereits in den dreissiger Jahren haben die Japaner seine tödliche Wirkung an Kriegsgefangenen erprobt. Im Zweiten Weltkrieg war das Toxin dann in vielen Waffenarsenalen enthalten. Auch Terroristen haben sich in den letzten Jahren für die Substanz interessiert.

hfl. Noch nicht einmal drei Jahre war es her, seit die amerikanische Food and Drug Administration das Toxin des Erregers Clostridium botulinum zur Therapie einiger seltener, aber bisher unbehandelbarer Krankheiten zugelassen hatte, da verdichteten sich im Spätherbst die Befürchtungen, dass der Giftstoff wieder zu dem Zweck eingesetzt werden könnte, der ihn in Verruf gebracht hat: als biologische Schreckenswaffe. Verschiedentlich wurde in den USA nach dem 11. September auch vor der Gefahr von Nahrungsmittelvergiftungen gewarnt. Das Botulinum- Toxin erfüllt alle Forderungen, die man an eine B-Waffe stellt. Der «Grundstoff» ist leicht zu besorgen - Botulinum-Bakterien kommen nahezu in jeder Art von Erdboden vor, finden sich an Fluss- und Seeufern und besiedeln regelmässig die Eingeweide von Fischen und zahlreichen Säugetieren. Das Toxin ist auch ohne Schwierigkeit in grossen Mengen herzustellen und im höchsten Grad tödlich, wenn es über die Atemwege aufgenommen wird. Es handelt sich um die giftigste bekannte Substanz überhaupt. Weniger als ein hunderttausendstel Gramm reicht aus, um eine erwachsene Person umzubringen.

In den Händen der Aum-Sekte

Die selbst für B-Waffen ungewöhnliche Kombination von Eigenschaften war vermutlich der Grund, warum die Aum-Shinrikyo-Sekte Botulinum-Toxin hergestellt und zielgerichtet zu terroristischen Zwecken eingesetzt hat. Mindestens dreimal zwischen 1990 und 1995 wurden von ihr Anschläge mit dem Toxin in der Stadtmitte von Tokio beziehungsweise in einer amerikanischen Einrichtung in Japan gemacht, mit dem Ziel, Tausende von Menschen umzubringen. Dass dies misslang, ist eher dem technischen Ungeschick der religiösen Fanatiker als der minderen Qualität der verwendeten Erreger zu verdanken.

Bereits 60 Jahre zuvor hatten Japaner schon einmal das Botulinum-Toxin als B-Waffe eingesetzt. Als die japanische Armee 1930 in die Mandschurei einmarschierte, überliessen die Militärs Kriegsgefangene gelegentlich der sogenannten Einheit 731, der B-Waffen-Abteilung des Heers, für «Forschungszwecke». Dort zwang man Gefangene, mit Clostridium botulinum verseuchte Speisen zu essen. Ein ungemein qualvoller Tod war die bewusst einkalkulierte Folge. In wirklich grossem Stil wurde das Toxin jedoch erst im Zweiten Weltkrieg hergestellt. Da jede der kriegführenden Seiten von den tödlichen Giftstoffen der anderen Partei Kenntnis hatte, wurden aber auch die medizinischen Folgen einer grossen Freisetzung dieses Giftes in das Kalkül einbezogen. So hatten allein die amerikanischen Militärärzte eine Million Dosen Antidot - von Pferden gewonnene Antikörper, die das Botulinum-Toxin neutralisieren - auf Vorrat, als am D-Day die alliierten Truppen in der Normandie landeten.

Unbestritten ist auch, dass die frühere Sowjetunion, entgegen den in der B-Waffen-Konvention gemachten Zusagen, das Toxin herstellte und zu Versuchszwecken einsetzte, so auf der Insel Wozroschdenje im Aralsee. Ken Alibek, ein hochrangiger Mitarbeiter des geheim gehaltenen Biopräparat-Programms, welcher Anfang der neunziger Jahre in die USA überlief, berichtete, dass sowjetische Wissenschafter auch versucht hätten, den genetischen Code für das Toxin in andere Bakterienarten «einzubauen». Wenn ein solcher Hybridkeim zusätzlich die Eigenschaft gehabt hätte, von Mensch zu Mensch übertragen zu werden - was bei Clostridium botulinum nicht der Fall ist - , wäre eine B-Waffe entstanden, die alles bisher Bekannte aus dem Repertoire des biologischen Schreckens in den Schatten gestellt hätte.

Es ist nicht auszuschliessen, dass einzelne Wissenschafter dieses sowjetischen Programms später in anderen Ländern ihr Wissen weiter nutzten. Im Irak zum Beispiel stellten die Inspektoren der Unscom nach dem Ende des Golfkriegs auf Grund von Unterlagen fest, dass das Land 19 000 Liter hoch konzentriertes Botulinum-Toxin in den vergangenen Jahren produziert hatte, von denen 10 000 Liter bereits in diversen Waffensystemen placiert worden waren - eine Menge, die theoretisch dreimal ausreicht, um die gesamte Weltbevölkerung auszulöschen. 13 Mittelstreckenraketen waren mit der tödlichen Fracht bestückt, 160 Stück 180-Kilogramm-Bomben enthielten das hoch konzentrierte Gift, und mehrere Spezialbehälter waren damit gefüllt, die von Flugzeugen aus freigesetzt werden sollten - eine Fracht, die im Nahen Osten zu apokalyptischen Verhältnissen hätte führen können. Für die Gefährlichkeit des Giftstoffes spricht auch, dass Bagdad von keiner anderen B-Waffe grössere Vorräte anlegte als vom Botulinum-Toxin.

Drei natürliche Arten der Erkrankung

Natürlicherweise kommen drei Arten von Botulismus-Erkrankungen vor. Sehr selten werden Wunden, beispielsweise bei Arbeiten im Garten oder in der Landwirtschaft, mit Dauerformen (Sporen) von Clostridium botulinum infiziert. Nach einer Latenzzeit von einigen Tagen beginnen die Bakterien ihre Giftstoffe zu produzieren, die dann über die Blutbahn in bestimmte Nervenzellen gelangen und dort die typischen Symptome einer Botulismus-Vergiftung hervorrufen.

Ebenfalls selten ist der sogenannte intestinale Botulismus, der vorwiegend bei Kindern beobachtet wird. Die Ursache ist die Aufnahme von Bakteriensporen durch Verschlucken von Erde, Staub oder verrottetem Material. 90 Prozent aller Botulismus-Fälle werden jedoch durch verdorbene Lebensmittel hervorgerufen. Immer dann, wenn Nahrungsmittel nicht hygienisch einwandfrei hergestellt und anschliessend luftdicht aufbewahrt werden, besteht das Risiko, dass sich aus Sporen von Clostridium botulinum Bakterien entwickeln, die dann ihrerseits Giftstoffe produzieren. Allein in den USA werden pro Jahr 10 bis 30 Kleinepidemien durch derart verunreinigte Lebensmittel gemeldet. Zwischen 2 und 58 Personen erkranken dabei.

Terroristen würden vermutlich aber einen vierten Weg bevorzugen, um mit einem Anschlag eine möglichst grosse Opferzahl zu erzielen, nämlich die Freisetzung des Toxins in Form eines Aerosols. Amerikanische Experten schätzen, dass eine Freisetzung des Botulinum-Gifts in der Luft, beispielsweise bei einer Veranstaltung im Freien, in einem Umkreis von 500 Metern mindestens jeden zehnten Besucher töten oder zumindest schwer krank machen würde.

Ein solches Attentat würde die Gesundheitsbehörden vor erhebliche Probleme stellen. Zum einen wird es schwierig sein, die Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und die notwendigen Behandlungsmassnahmen einzuleiten; mit den ersten Krankheitszeichen ist nach 48 bis 72 Stunden zu rechnen, das Antidot muss aber so schnell wie möglich verabreicht werden. Zum anderen könnten die medizinischen Versorgungseinrichtungen sehr schnell an die Grenze ihrer Kapazität gelangen: Die Mehrzahl der Patienten braucht vermutlich intensivmedizinisch Betreuung und künstliche Beatmung.

Auch wenn Botulismus zu einem typischen Krankheitsbild führt, so wird die Mehrzahl der niedergelassenen Ärzte zudem nicht in der Lage sein, auf Anhieb die richtige Diagnose zu stellen. Ja sogar Fachärzte tun sich schwer und verwechseln die Botulismus-Intoxikation mit anderen ähnlichen neurologischen Krankheitsbildern.

1988 kam es unter Gästen eines kanadischen Restaurants zu einem Ausbruch von Botulismus. Die Ursache war ein Gewürz, dem mit Botulinum-Toxin verunreinigtes Knoblauchpulver beigemischt war. Über einen Zeitraum von sechs Wochen, in denen das Gewürz den Gästen offeriert wurde, erkrankten 28 Personen. Bei keinem der Kranken tippten die Ärzte jedoch auf Botulismus. Erst als eine erkrankte Mutter mit ihren zwei Kindern im 3200 Kilometer entfernten Universitätskrankenhaus ihres Heimatortes vorstellig geworden war, wurde die richtige Diagnose gestellt. Labormethoden, um eine solche Vergiftung nachzuweisen, sind nämlich ausgesprochen kompliziert und nur in wenigen Referenzlaboratorien vorhanden; ein Ergebnis liegt frühestens in 28 Stunden vor. Müssen die Erreger angezüchtet werden, weil andere Labormethoden nicht vorhanden sind, ist ein Ergebnis sogar erst nach einer Woche zu erwarten.

Mängel auch bei der Therapie

Auch mit der Therapie einer Botulismus-Vergiftung liegt es im Argen. Zwar gibt es in den USA ein sogenanntes Antitoxin, das - wenn frühzeitig verwendet - die Todesfallrate erheblich reduziert. Das Antidot wirkt aber nur gegen zwei der sieben bekannten Giftmoleküle, die von den Varianten des Botulinum-Bakteriums produziert werden. Ausserdem wird das Antiserum noch immer von Pferden gewonnen und ist deshalb mit einem hohen Risiko für gravierende Nebenwirkungen belastet. Allein schon aus diesem Grund ist eine systematische Behandlung aller bei einem Anschlag möglicherweise mit dem Toxin in Kontakt gekommenen Personen nicht möglich.

Auch eine Impfung, die ohne Bedenken bei Zehntausenden von Menschen zum Einsatz kommen könnte, ist nicht in Sicht. Die amerikanischen Centers for Disease Control in Atlanta haben zwar einen Impfstoff parat, der eine schützende Immunantwort gegen fünf Giftmolekültypen induziert. Mit der mehr als 30 Jahre alten Vakzine wurden aber bisher nur rund 3000 Personen geimpft, viel zu wenige, um Aussagen über die Häufigkeit und Schwere von Nebenwirkungen machen zu können.

Erheblicher Forschungsbedarf

Vor bald einem Jahr, also noch vor dem 11. September, hat eine 18-köpfige amerikanische Expertengruppe unter der Leitung von Stephen S. Arnon vom Botulism Treatment and Prevention Center des kalifornischen Gesundheitsministeriums daher befunden, es bestehe erheblicher Forschungsbedarf. Auf einen Anschlag mit dem Botulinum-Toxin sei man nicht im Geringsten vorbereitet. Wegen seiner extrem hohen Giftigkeit, der Leichtigkeit, mit der es hergestellt, transportiert und freigelassen werden kann, und nicht zuletzt wegen der erheblichen intensivmedizinischen Konsequenzen sei Clostridium botulinum aber eine ernst zu nehmende Waffe von Terroristen.

 

 Diesen Artikel finden Sie auf NZZ Online

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