Aus
einer Fabrik für biologische Waffen in Swerdlowsk entwich am 2. April 1979 eine
kleine Menge von Milzbrandsporen. Das Aerosol wurde in südöstliche Richtung
getragen und führte in der Folge zum Tod von 66 Menschen.
Swerdlowsk,
früher (und heute wieder) Jekaterinburg, 1400 Kilometer östlich von Moskau, am
Montag, den 2. April 1979. Nach Durchzug einer Kaltfront ist der Himmel
wolkenlos. Am frühen Morgen beträgt die Temperatur 10 Grad unter Null. Es weht
ein mässiger Wind aus Nordwest. Die Menschen in dieser Industrieagglomeration
von mehr als einer Million Einwohnern machen sich auf den Weg zur Arbeit.
Schwerindustrie dominiert; es gibt eine grosse Keramikfabrik und eine
geheimnisumwitterte militärische Anlage am Südrand des Stadtkerns, aufgeteilt
in zwei Komplexe, Nr. 19 und Nr. 32. Im Komplex 19, munkelt man, werden
biologische Waffen entwickelt.
Im
Komplex 32 findet für Reservisten ein Wiederholungskurs statt, graue Theorie in
einem grauen Theoriesaal. Denn wir sind im kalten Krieg, in Moskau herrscht
Leonid Breschnew, der 48jährige Parteiboss im Oblast Swerdlowsk ist ein
gewisser Boris Nikolajewitsch Jelzin. Die Nato bereitet ihren
Nachrüstungsbeschluss vor. Bald wird die sowjetische Intervention in
Afghanistan beginnen. Die Mauer in Berlin wird noch 10 Jahre stehen.
Am 4.
April erkrankt eine 48jährige Frau, die in der Keramikfabrik arbeitet, an hohem
Fieber, Atemnot, Husten, Kopfschmerzen, Erbrechen, Schüttelfrost. Sie stirbt am
11. April. Unterdessen sind 28 weitere Personen mit ähnlichen Symptomen in die
Spitäler eingeliefert worden. In der darauffolgenden Woche 20, dann nimmt die
Zahl der Fälle rasch ab, 6 in der dritten Woche, 4 in der vierten, je 2 in der
fünften und sechsten Woche. Insgesamt sterben 66 Menschen (49 Männer und 17
Frauen), und weitere 11 (7 Männer, 4 Frauen) erkranken, überleben aber. Kinder sind
keine betroffen.
Im
gleichen Zeitraum treten in 6 Dörfern, die in einer nahezu geraden Linie
gestaffelt bis zu 50 Kilometer im Südosten von Swerdlowsk liegen, Erkrankungen
bei Schafen und Rindern auf, die zum Tod oder zur Notschlachtung der Tiere führen.
Für die Tierärzte ist die Diagnose klar, es handelt sich um eine in der Region
zwar seltene, aber nicht völlig unbekannte Krankheit, übrigens eine klassische
Krankheit, mit der die Geschichte der Bakteriologie und fast jeder
bakteriologische Kurs beginnt: Milzbrand, Anthrax. Der Erreger, ein
stäbchenförmiger, relativ grosser Bazillus, wurde schon Mitte des letzten
Jahrhunderts gesehen, und Robert Koch erkannte seine Fähigkeit, äusserst
widerstandsfähige Sporen zu bilden. Louis Pasteur und seine Mitarbeiter
entwickelten einen ersten Impfstoff, dessen Wirksamkeit mit einem für die Zeit
erstaunlichen publizistischen Aufwand öffentlich demonstriert wurde.
Der
Milzbrand ist eine Infektionskrankheit der Tiere, vor allem der Schafe und Rinder,
er befällt nur ausnahmsweise den Menschen. Landwirte, Metzger, Tierärzte können
sich über Hautabschürfungen an einem kranken Tier infizieren, worauf eine
furunkelartige, bösartige Pustel entsteht. Über das Fleisch von kranken Tieren
kann es zu einem intestinalen Milzbrand kommen, mit Eintrittspforte des
Erregers im Darm. Beim Verarbeiten von Pelzen oder von Wolle
milzbrandbefallener Tiere können vom Menschen Milzbrandsporen eingeatmet
werden, was zu einer meist tödlichen Lungenentzündung führt.
Die
Widerstandskraft der Milzbrandsporen, ihre Eignung, in Form eines feinen Nebels
versprüht zu werden, ihre Fähigkeit, nach Einatmung relativ kleiner Mengen eine
schwere Krankheit hervorzurufen, hat frühzeitig Pläne reifen lassen, Milzbrand
als biologische Waffe einzusetzen. Vor mehr als 50 Jahren, 1942, hat die
britische Armee auf der unbewohnten Gruinard-Insel von Schottland probeweise
Milzbrand-Bomben abgeworfen.
Seither
blieb die Insel militärisches Sperrgebiet, und noch Mitte der achtziger Jahre
waren immer noch infektionstüchtige Milzbrandsporen im Boden nachweisbar. Eine
Desinfektion mit Formalin wurde 1986 und 1987 durchgeführt. Inzwischen konnte
eine Schafherde schadlos wochenlang weiden. Die Insel wurde 1988 offiziell als
nicht mehr gefährlich erklärt und am 1. Mai 1990 den Erben des ursprünglichen
Besitzers für 500 £ (die gleiche Summe, die seinerzeit als Entschädigung
ausbezahlt worden war) verkauft.
Zurück
nach Swerdlowsk: Am 10. April 1979, nachdem mehr als ein Dutzend Todesfälle
aufgetreten sind, schaltet sich das sowjetische Gesundheitsministerium ein. Die
labormässige Bestätigung, dass es sich um Milzbrand handelt, trifft am 11.
April ein. Vom 12. April an werden alle verdächtigen Fälle in eine
Spezialabteilung des Spitals Nr. 40 eingewiesen, wo auch die Autopsien
erfolgen. Die Leichen werden mit Chlorkalk bestreut und in einer besonderen
Abteilung des städtischen Friedhofs beerdigt. In dem am meisten betroffenen
Stadtviertel werden Gebäude und Bäume von Putzbrigaden gereinigt, streunende Hunde
von der Polizei erschossen und einige Strassen asphaltiert. Von der
Möglichkeit, sich gegen Milzbrand impfen zu lassen, machen etwa 48 000 Personen
Gebrauch.
Allmählich
treffen bei den amerikanischen Geheimdiensten genügend Hinweise ein, die auf
eine B-Waffen-Katastrophe in Swerdlowsk deuten. Während die sowjetische Seite
alles tut, um den Vorfall zu verschleiern, und von einer kleinen Epidemie
spricht, ausgelöst durch schwarzgeschlachtetes Fleisch, glauben die Amerikaner
an eine Explosion in einer B-Waffen-Fabrik mit Tausenden von Todesopfern. Es
braucht nichts weniger als die Desintegration des Sowjetimperiums, um
nachträglich, nach 15 Jahren, etwas Licht in diese Angelegenheit zu bringen.
Eine
Kommission von amerikanischen Wissenschaftern, zusammen mit ihren russischen
Kollegen, konnte die damaligen Ereignisse vor Ort weitgehend rekonstruieren.
Danach besteht kein Zweifel mehr daran, dass tatsächlich in Swerdlowsk aus dem
militärischen Komplex Nr. 19 ein Aerosol von Milzbrandsporen entwichen ist,
das, vom Wind in südöstliche Richtung getragen, Lungenmilzbrand bei Mensch und
Tier ausgelöst hat.
Weil
sich die militärischen Instanzen nach wie vor zugeknöpft geben, ist es nicht
möglich, zu sagen, was genau passiert ist, doch sieht es mehr nach einem Leck,
einem undichten Ventil oder einem Druckabfall aus als nach Explosion oder
Brand. Die Gesamtmenge an Sporen, die freigesetzt wurde, dürfte zwischen 10
Milligramm und einem Gramm betragen haben, ein kleines Quantum, in einem
Röhrchen leicht in der Westentasche herumzutragen.
Interessant
ist, dass an den ergriffenen Notmassnahmen das Militär kaum beteiligt gewesen
zu sein scheint. Dabei hätte sich doch die Gelegenheit geboten, die Abwehr
gegen B-Waffen im Massstab 1:1 zu üben. Man muss annehmen, dass es den
verantwortlichen Stellen wichtiger war, das Ganze zu vertuschen, nicht zuletzt
auch gegenüber der eigenen Bevölkerung. Offenbar waren in Swerdlowsk Pfuscher
am Werk. Paradoxerweise wird man trotz den bedauernswerten Opfern nicht sagen
können, «leider» seien Pfuscher am Werk gewesen. Denn dass nur die dritte oder
vierte Garnitur der Biologen, in welchem Land auch immer, sich für die
Entwicklung biologischer Waffen anheuern lässt, bleibt unsere beste Hoffnung.
Jean Lindenmann
Weiterführende Literatur:
Aldhous, P.: Gruinard Island handed back. Nature 344, 801 (1990). Meselson, M. et al.:
The Sverdlovsk Anthrax Outbreak of 1979. Science 266, 1202-1208 (1994).
Neue Zürcher Zeitung, 15. Februar 1995